Leseproben

Diese Stasi-Werbung hatte mich empört und aufgewühlt. Ich durfte also mit niemandem über diese Situation sprechen. Um mich abzulenken, ging ich in die Leipziger Innenstadt in mein Lieblingscafé. Kai war bei seinen Großeltern. Die Eltern meines Mannes wohnten ganz in unserer Nähe. Als ich nach Hause ging, war es bereits dunkel. Ich schleppte die Schwüle des Tages und die emotionale Belastung durch die Stasibehörde mit mir herum. Mit niemandem über den Vorfall zu reden, fiel mir schwer. Obwohl bisher nichts Bedeutendes passiert war, spürte ich etwas Bedrohliches. Wo waren meine Leichtigkeit und mein Hochgefühl geblieben? Es war zwar spät, aber ich nahm absichtlich kein Taxi, weil ich den Gang durch die laue Abendluft genießen wollte.

Inzwischen hatte die Dunkelheit auch das blasse Licht der Straßenlaternen verschluckt. Ich war froh, dass ich nur noch wenige Meter von meinem Zuhause entfernt war. Mit Erleichterung eilte ich der Haustür entgegen. Die menschenleere Straße beunruhigte mich. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite wartete ein beiges

 Auto auf seinen Besitzer. Wem das wohl gehört? fragte ich mich. Ich hatte diesen Wagen noch nie hier gesehen. Bevor ich die Haustür aufschloss, drehte ich mich in alter Gewohnheit noch einmal um. Sah ich an der Häuserecke nicht gerade einen Schatten, der sich blitzschnell entfernte? Aber vielleicht war es nur eine dieser Fata Morganen, die mir in letzter Zeit das Leben schwermachten.

Nun aber nach Hause, sagte ich mir. Ich sehnte mich nach Ausspannen in meiner behaglichen Wohnung. Doch was war das? Als ich die Wohnungstür aufschließen wollte, bemerkte ich, dass die Tür nur angelehnt war. Hatte ich vergessen abzuschließen? Aber nein, diesen Gedanken verwarf ich ganz schnell. Mein Herz raste. Ich hatte Angst, in meine eigene Wohnung zu gehen. Die Angst  kroch durch meinen ganzen Körper. Meine Hände zitterten. Ich drückte auf den Lichtschalter. Aber es war nichts Auffälliges zu entdecken.

„Hallo, ist da jemand?“, rief ich mit zittriger Stimme.

Nachdem ich keinen Laut vernahm, ging ich durch Schlaf- und Kinderzimmer. Schließlich blieb ich unschlüssig vor meiner Wohnzimmertür stehen. Die Tür war als einzige geschlossen, was ungewöhnlich war. Ich ließ meist alle Türen offen. Nach einem kurzen Zögern öffnete ich vorsichtig die schwere, weiß lackierte Altbautür. Was ich da sah, war ein Bild des Grauens. Herausgezogene Schubladen, Briefe, Papiere und Krimskrams waren auf dem Teppich verstreut. Meine zahlreichen Ordner mit Unterrichtsvorbereitungen, Anschauungsmaterial und sonstigen Unterlagen türmten sich in einer Ecke des Zimmers. Ich war wie gelähmt. Ein Telefon hatte ich nicht. Also war ich mit mir allein und musste versuchen, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich war froh, dass Kai bei den Großeltern war.

Da saß ich nun inmitten meines äußeren und inneren Chaos. …Nach diesem Ereignis war alles anders. Überall sah ich glotzende Gesichter mit überdimensionalen Ohren. Ich fühlte mich fremd in meiner eigenen Wohnung. ‚Wanzen, Wanzen, überall Wanzen! ‘, schoss es mir durch den Kopf.

Zur Beruhigung trank ich den Tee, der mich an meine Kindheit erinnerte. Ich fragte mich, warum immer wieder irgendwelche Peiniger meinen inneren Frieden störten, warum es mir nicht vergönnt war, ein bisschen Glück in mein Leben zu lassen. Aber ich durfte nicht unzufrieden sein, denn immerhin wartete mit meinen 30 Jahren noch das pralle Leben auf mich. Ich war eine leidenschaftliche Mutter, liebte meinen siebenjährigen Sohn über alles. Ebenso war ich eine begeisterte Lehrerin. Ich liebte die Kinder, und die Kinder liebten mich. Warum beschwerte ich mich? Mit meiner rebellischen Haltung hatte ich mich oft am Rande des Abgrundes bewegt, kein Risiko gescheut, war hingefallen, wieder aufgestanden, hatte mir blaue Flecken geholt und diese einfach ignoriert. Was ich tat, machte ich mit Hingabe und Leidenschaft. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt hatte, setzte ich es durch. Aber inzwischen war die Schmusezeit mit der Stasi vorbei. Ich hatte diese Herren trotz raffinierter Werbung abblitzen lassen, bewegte mich im Unterricht oft am Rande des politisch Korrekten. So verwendete ich beispielsweise literarische Texte, die nicht im Lehrplan vorgesehen waren, drückte mich um eine eigene politische Stellungnahme, indem ich Medien einsetzte.

Einige Kollegen hielten mich für arrogant und aufrührerisch und sorgten dafür, dass ich mich vor dem Schulleiter und dem Parteivorsitzenden für meine Eigenmächtigkeiten verantworten musste. Zum Glück war meine Beziehung zum Schulleiter sehr gut. Er war überzeugt davon, dass ich guten Unterricht gab.

Das sah der Parteivorsitzende anders. So wusste ich, dass man mir nun genauer auf die Finger schaute. Diese Schikanen und Peinigungen ließen mich über Macht und Ohnmacht philosophieren.


Ich widme dieses Buch meinem Sohn Kai und meiner Freundin Kristel (+), die leider die zweijährige Gefängniszeit nicht überlebt hat.