Marie-Luise Knopp führt uns ihre für uns bisher unbekannte Welt und vieles Schicksale vor
Was ist Resilienz? Die Älteren unter uns werden den Begriff, der seit den 1990er Jahren zunehmend in die Wissenschaften und Medien eingezogen ist, vielleicht noch nicht einmal wahrgenommen haben. Und doch ist Resilienz eine Fähigkeit, ohne die gerade ehemalige politische Häftlinge des Ostblocks ihre Haftzeit nicht hätten überstehen können.
Wenn man nach Definitionen für Resilienz sucht, findet man im Internet zunächst an die acht Rubriken, die Resilienz eine wesentliche Bedeutung beimessen. Dort findet sich auch der lateinische Ursprung: abprallen. In der heutigen Anwendung wird Resilienz vor allem im Zusammenhang mit der Bewältigung schwer ertragbarer sozialer Einflüsse, aber auch bei schweren Erkrankungen genannt.
Als allgemeine Einleitung mag dies genügen. Dass wir uns mit Resilienz befassen, hat mit dem neuen Buch von Marie-Luise Knopp zu tun, die zum einen ihre DDR-Haft nicht ohne Resilienz überstanden hätte, die jedoch nach ihrer Übersiedlung in die Bundesrepublik eine psychotherapeutische Zusatzausbildung absolvierte und fortan mit physisch und psychisch erkrankten Mädchen und Frauen arbeitete, denen sie half, allmählich eigene Abwehrkräfte zu entwickeln und mit ihren schweren Lebenskrisen fertig zu werden.
Natürlich muss man fragen, ist ein Hafterlebnis mit Suizidabsichten, mit einer Krebs- oder Stoffwechselerkrankung vergleichbar. Die politische Haft in der DDR war eine Zwangssituation, die durch die gesellschaftlichen Verhältnisse verursacht wurde. Menschen haben sich gegen das Regime aufgelehnt oder wollten ihm entkommen, dafür wurden sie hart bestraft. Erkrankungen entstehen in der Regel nicht durch politische Einflüsse, ihre Ursache ist nicht unbedingt erkennbar. Umso deutlicher sind die Erkennbarkeit ihres Verlaufs und die Auseinandersetzung damit. Dies genau hat Marie-Luise Knopp zum Gegenstand ihres Buches gemacht.
Nicht zu vergessen ist ein wichtiger Faktor. Er heißt Calvin, zählt 25 Jahre und ist der Enkel der Autorin. Calvin hat darauf gedrungen, die Geschichte seiner Großmutter vor dem Vergessen zu bewahren. Die Haft, die Zeit davor, die Zeit danach. Natürlich wissen wir aus den vorigen Werken vieles über die Autorin, aber es ist nicht alles, und es ist nicht das, was das Schicksal von Calvins Großmutter allein ausmacht.
Marie-Luise Knopp ist keine Frau, die sich nach den schweren Jahren nur noch ausruhen will. Sie war Lehrerin, sie hat nach der Zusatzausbildung intensiv mit kranken Menschen gearbeitet. In diesem vierten Buch lässt sie die Betroffenen zu Wort kommen, und das geht dem Leser, eben weil die Berichte nicht bearbeitet oder frisiert sind, tief unter die Haut. Besonders ergreifend ist der Bericht der Patientin Bärbel, deren lebensbejahende Tochter Maren mit 37 Jahren schwer an Brustkrebs erkrankt. Das Schicksal schlägt derart brutal zu, dass es der jungen Frau keine Chance lässt. Sie stirbt nach einer Kette von Behandlungen und immer wieder aufkeimenden Hoffnungen und hinterlässt einen 12-jährigen Sohn, der nur durch die Unterstützung von Marens Mutter aufgefangen werden. Bärbel erfährt Hilfe von Marie-Luise, die den Schmerz teilt, aber durch ihre Hafterfahrung zeigen kann, wie man an sich selbst wächst und die schweren Krisen überwindet.
Glücklicherweise enthält das Buch auch positive Beispiele. Da ist Mareike, die den Krebs besiegt, und da ist Jana, die sich als 17-Jährige ernsthaft mit Suizid-Gedanken trug. Ihr half Marie-Luises Buch von den „Eingesperrten Gefühlen“. Es entstand eine Art Vorbildwirkung, die das Mädchen erkennen ließ, wie schwer es andere Menschen zuweilen haben, wie es für Tausende politische Inhaftierte in der DDR war. Jana begleitete Marie-Luise zur Buchmesse nach Leipzig, wo sie völlig neue Eindrücke sammelte und andere Menschen kennenlernte. Es entstand eine Freundschaft auf Augenhöhe, und endlich findet Jana einen eigenen, soliden Weg ins Leben.
Der „Blick hinter Mauern“ enthält weit mehr solcher Beispiele, er macht dem Leser und der Leserin Mut, und man muss dabei nicht die Definition der Resilienz kennen, um zu begreifen, was in dieser Fähigkeit steckt: die Kraft zum Aufstehen und über eben diese Mauern zu blicken. Es ist sowohl die Kraft, die in einem selbst wohnt, wie auch die Kraft der anderen Menschen, die für einen da sind. In der Haft kämpfte jeder und jede für sich allein. Marie-Luise Knopp und viele andere ehemalige Häftlinge haben erfahren, dass seitens der Wachen und Vernehmer eher nach dem Ausgestoßenen getreten wurde, als dass man ihm half, indem man nach seinen Sorgen und Problemen fragte. In unserer heutigen Gesellschaft wird dem Kranken Hilfe geboten. Darin besteht eine wesentliche Quintessenz dieses Buches: Hilfe suchen, Hilfe annehmen.
Ein Wort noch zu diesem jungen Mann, dem Enkel von Marie-Luise Knopp. Wir, die – nicht nur bildlich gesprochen – aussterbende Generation wären dankbar, wenn es weitere Calvins geben würde. Sie müssen nicht immer verwandtschaftliche Bindungen haben, sie sollen lediglich aufgeschlossen und neugierig sein. Ihnen stehen die Gedenkstättentüren offen, die Akten sind für sie lesbar, und wenn sie auf uns zukommen, öffnen wir ihnen unsere Erinnerungen und unsere Herzen. Dass das so ist und dass sie das wahrnehmen können, war vor Jahrzehnten eines der Anliegen, für die wir durch die Haft zu büßen hatten. Und was Marie-Luise Knopp betrifft, wird es vermutlich nicht lange dauern, bis wir an dieser Stelle ein weiteres Buch, dann vielleicht mit Unterstützung beider Enkel herausgegeben, vorstellen dürfen. Tom Haltern
Marie-Luise Knopp: Ein Blick hinter Mauern. Kraft aus Krisen schöpfen.
978-3866685-949-4. Visbek 2023