von Christoph Müller
Es überrascht uns immer wieder, dass Vergangenheit Spuren hinterlässt – im kollektiven Gedächtnis, in individuellen Biographien, auch in Krankheitsverläufen. Besonders auf individuellen Lebenswegen kommt es dazu, dass Lebensenergien Einzelner gehemmt werden, während niemand weiß, wo diese Hemmung herkommt. Auf der anderen Seite werden Potentiale freigesetzt, die zu einem fast maniformen gesellschaftlichen Engagement führen. Diese Formen verborgener Wunden sind mir in den letzten Wochen mehrmals begegnet.
Da ist die Geschichte der Pädagogin Marie-Luise Knopp. Jahrelang hat sie in einer westdeutschen Kinder-und Jugendpsychiatrie junge Menschen auf ihren Wegen begleitet. Unter anderem haben Knopp sowie ihre Kolleginnen und Kollegen jungen Menschen, deren Seelen aus der Balance geraten waren, eine Stimme verliehen – mit der Schüler-Zeitung „Klapse“ und unterschiedlichen Buch-Projekten, bei denen sie von den leidvollen Erfahrungen in Kinder-und Jugendtagen berichtet haben.
Knopp hat in ihrem Enkel einen Geburtshelfer gefunden, als es darum ging, sich mit Aspekten der eigenen Lebensgeschichte auseinanderzusetzen. Knopp hat in der ehemaligen DDR im Zuchthaus gesessen – wegen geplanter Republikflucht. Diese Zeit hat tiefe Furchen hinterlassen. Das Buch „Eingesperrte Gefühle“ schildert eindrücklich die Erlebnisse dieser persönlich schweren Zeit. Mit dem Buch „Freundschaft trotzt Mauern“ macht Knopp nun Weggefährtinnen den Weg frei, verborgene Wunden sichtbar zu machen.
Die Lektüre der beiden Bücher „Eingesperrte Gefühle“ und „Freundschaft trotzt Mauern“ lässt einem kalte Schauern den Rücken hinablaufen. Auf jeder Seite hat die Leserin, der Leser das Gefühl: „In deren Haut will ich nicht gesteckt haben“. Geschichte wird durch Geschichten greifbar. Was eigentlich so weit weg erscheint, ist einem ganz schnell so nah.
Dies ist mir auch mit einer anderen Geschichte so ergangen. Ich erfuhr von einem Menschen, der sich als Angehöriger psychisch erkrankter Menschen engagiert, eine erschütternde Geschichte. In den letzten Wochen ist ihm beim Durchschauen hinterlassener Dokumente bewusst geworden, welch tragische Geschichte sich in seiner Familie ereignet hat. Sein Bruder hat sich schon vor vielen Jahren das Leben genommen – nach vielen Jahren seelischen Leids. In seinen Psychosen hat er immer wieder Bilder erlebt, die sich mit dem Nationalsozialismus verbinden ließen. Niemand hat geahnt, was sich dahinter verborgen hat.
Hinterlassenschaften haben nun so etwas wie Wahrheit ans Tageslicht gebracht. Der Vater des erkrankten Menschen ist viele Jahre Untersturmführer in der Waffen-SS gewesen. Unter anderem ist er als Mitglied einer der Sondereinheiten in der Ukraine an der Tötung behinderter Menschen im Rahmen der sogenannten T 4 – Aktion direkt oder indirekt beteiligt gewesen, was in einem Prozess in den 1960er Jahren nicht geklärt werden konnte. Die T 4 – Aktion sorgte für die systematische Ermordung lebensunwerten Lebens, wie die Nationalsozialisten es nannten.
Es ist kaum zu ermessen, was diese Offenlegung einer persönlichen Geschichte in einem Menschen anrichtet. Dies können, wenn überhaupt, nur die Menschen ermessen, die es betrifft. Anderen Menschen bleibt Fassungslosigkeit und Schweigen im Angesicht der bekannt gewordenen Fakten. Gleichzeitig zeigen die Erfahrungen, dass individuelles Leben immer auch eng verzahnt mit dem gesellschaftlichen Leben ist und sicher auch politische Dimensionen hat.
In der eigenen psychosozialen Arbeit begegnen mir immer wieder die intergenerationellen Traumata und natürlich auch die vererbten Wunden. Es erscheint kaum fassbar, was in den Betroffenen vor sich geht. Deshalb erscheint es oft so bedeutsam, wenn Menschen einfach nur davon erzählen. So geht es mir auch mit den beiden Geschichten aus der NS-und der DDR-Zeit. Und ich kann nur einen Wunsch äußern, der das Miteinander der Generationen vielleicht leichter macht und manche Wunden ganz natürlich lindern lässt. Lasst uns an einem Tisch sitzen, über die Erfahrungen sprechen, die Existenzialität dieser Erlebnisse erahnen. Dies sorgt vielleicht dazu, dass Erlebtes leichter wird und wir einander besser verstehen. Und wie gesagt: Politische Dimensionen hat es auch noch.